Am Mittwochnachmittag gegen 15:45 ist im Baumhausdorf Beechtown im Hambacher Forst der Bewegungsjournalist, Blogger und Aktivist Steffen Horst Meyn gestorben. Er stürzte beim Versuch, eine laufende Räumungsaktion durch das Sondereinsatzkommando der Polizei (SEK) zu dokumentieren, von einer Hängebrücke aus ca. 20 m Höhe. Rettungskräfte am Boden versuchten noch, ihn zu reanimieren. Nach unserem Informationsstand verstarb er jedoch wenig später, noch im Wald, in einem Rettungshelikopter.
Wir sind über dieses tragische Ereignis erschüttert und fassungslos. Wir fühlen tiefstes Mitgefühl für die Familie und Freunde des Verstorbenen und hoffen, dass sie die Privatsphäre und Ruhe zugestanden bekommen, die sie in ihrer Situation wahrscheinlich brauchen. Auch für viele von uns war er ein Freund, dessen Verlust wir noch nicht wirklich begreifen. Gerade auch den Menschen in Beechtown, die nach Wochen Dauerstress durch die Räumung jetzt dieses fürchterliche Ereignis miterleben mussten, wünschen wir viel Kraft und Ruhe.
Nach allen Informationen, die wir in der Pressestelle des Hambacher Forstes bisher sammeln konnten, handelt es sich klar um einen tragischen Unfall.
Ein würdiger Umgang wäre es in unseren Augen gewesen, dass alle Seiten sich vorerst bedeckt halten. Dass als Reaktion des Innenministeriums und der Polizei am heutigen Tage die freiwillige Räumung der Baumhäuser gefordert wurde, halten wir in dieser Situation für eine absolut unangemessene strategische Nutzung des Todesfalles.
In der Kommunikation über die Besetzung, und nun auch über den Unfall, greifen das Land NRW und die Polizei auch zu Falschmeldungen. Eigentlich hätten wir uns gewünscht, uns noch nicht auf einer politischen Ebene zu dem Unfall äußern zu müssen. Aber durch die Verbreitung von Unwahrheiten und dem pietätlosen Versuch einer Instrumentalisierung von Steffens tragischem Tod sehen wir uns nun leider zu einigen paar Richtigstellungen genötigt.
1. Zur Unfallzeit waren Polizeieinheiten und Räumungskräfte vor Ort in Beechtown im Einsatz. Entsprechendes Foto- und Videomaterial haben wir dieser Erklärung angehängt. (Triggerwarnung: https://bit.ly/2xyVOy5) Es ist uns unbegreiflich, wie die Polizei dazu kommen kann, das Gegenteil zu behaupten.
2. In sechs Jahren fast ununterbrochener Baumhausbesetzung ist dies der erste und einzige vergleichbare Fall. Sechseinhalb Jahre lang waren die Baumkronen bewohnt, sind täglich Menschen hoch und runter geklettert und haben sich zwischen den Bäumen bewegt, ohne dass es bisher zu einem vergleichbaren Fall gekommen wäre. Dass das Land NRW, die Polizei und RWE dieses tragische Unglück nun versuchen zu instrumentalisieren, um die angebliche Notwendigkeit dieser gewaltsamen Räumung zu rechtfertigen, halten wir für unwürdig und eine Verhöhnung der Betroffenen.
3. Die Frage, die uns alle in diesen Tagen begleitet, ist die Frage nach dem ‘Warum?’. Seit Wochen wird der Hambacher Forst belagert, um an die darunterliegende Braunkohle zu kommen. Es ist unserer Ansicht nach kein Zufall, dass dieser erste tödliche Unfall in der Geschichte der Besetzungen ausgerechnet jetzt, während der Räumung, stattfindet.
Alle Menschen in den Besetzungen standen seit mehreren Wochen unter Dauerstress durch eine Räumung, die in einem wahnwitzigen Tempo durchgeprügelt wurde. Ständiger Lärm durch Räumungsarbeiten, Tag und Nacht Flutlichter und Blaulicht, massive Polizeipräsenz am Boden, Beschallung mit Hundegebell und Aufnahmen von Kettensägengeräuschen, sowie die Nachrichten über die immer wieder lebensbedrohliche Vorgehensweise der Einsatzkräfte, hinterlassen körperliche und seelische Spuren bei allen Beteiligten. Schlaflosigkeit, Stress und Überreizung sind Gift für die Aufmerksamkeit und Ruhe, die für sicheres Baumklettern unerlässlich sind.
Nach unseren Informationen besteht zwar kein direkter Zusammenhang mit der akuten Polizeiaktion vor Ort zum Unfallzeitpunkt. Wir wissen aber aus erster Hand, dass der Verstorbene nur deshalb erst in die Bäume geklettert ist, weil er am Boden permanent durch die Polizei an seiner Pressearbeit gehindert wurde.
“Nachdem die Presse in den letzten Tagen im Hambacher Forst oft in ihrer Arbeit eingeschränkt wurde, bin ich nun in 25m Höhe auf Beechtown, um die Räumungsarbeiten zu dokumntieren. Hier oben ist kein Absperrband.” (https://bit.ly/2MPh6NB)
Auch das Land NRW, Polizei und RWE sollten in diesen Tagen gründlich innehalten und sich besinnen. Der Versuch, die Schuld auf angebliche Sicherheitsmängel in den Konstruktionen zu schieben, ist in dieser Situation eine durchsichtige Strategie und absolut unangebracht.
Was wir jetzt brauchen, ist Ruhe für die notwendige Trauerarbeit. Dafür reicht es nicht, dass die konkreten Räumungsarbeiten bis auf Weiteres ausgesetzt sind. In der Nacht nach dem Unfall war Beechtown noch immer mit einer Flutlichtanlage ausgeleuchtet und von Hundegebell beschallt. Noch immer ist der Wald voller Polizeikräfte, die wir in den letzten Wochen und Jahren nur als Aggressoren erlebt haben. Noch immer stehen die Hebebühnen, Räumpanzer, Wasserwerfer und Kettensägen im Wald und warten auf ihren Einsatz. Das ist kein rücksichtsvolles Innehalten.
Was jetzt nötig ist, ist ein sofortiger Abzug der Polizeieinheiten und ein Stopp der Räumungs- und Rodungsmaßnahmen. Der Wald und die Menschen brauchen Ruhe, um dieses Ereignis zu verarbeiten. Außerdem sollte die Polizei ihre Einsatzstrategie und das manische Tempo der Räumung grundlegend überdenken.
Es gab in den letzten Wochen zu viele Vorfälle, in denen die Gesundheit und das Leben von Aktivist*innen aufs Spiel gesetzt wurden. Die Pressefreiheit wurde während des gesamten Einsatzes regelmäßig massiv eingeschränkt. Sicherheitsrelevantes Material wie Kletterseile, Klettergurte und Feuerlöscher, wurden systematisch und in großen Mengen beschlagnahmt oder zerstört. Und den Menschen in den Bäumen wurde durch die massive Präsenz eine psychische, emotionale und körperliche Belastung zugemutet, die weder für sicheres Klettern noch für die Aufarbeitung von einem Todesfall zumutbar ist.
Das alles muss aufhören. Deshalb fordern wir einen sofortigen Totalabbruch des Einsatzes und die Freilassung aller Gefangenen. Herr Weinspach und Herr Reul: Lassen Sie uns in Frieden trauern.